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69. Berlinale: Das Private ist politisch

Ja, der feministische Slogan aus den 80ern wird mit mehreren Filmen eindrücklich illustriert. Wieder haben wir nur knapp die Hälfte der Wettbewerbsfilme gesehen, der beeindruckendste heisst GOOD EXISTS, HER NAME IS PETRUNYA. Er erzählt 24 Stunden in einem mazedonischen Dorf, wo ein religiöser Brauch darin besteht, am Dreikönigstag ein vom Priester in den eiskalten Fluss geworfenes Kreuz rauszuholen – wozu bis jetzt immer nur junge Männer angetreten sind. Und da springt die Protagonisten, eine unglückliche, arbeitslose, junge Frau ins Wasser und ergattert das Kreuz. Das darf nicht sein. Die gewalttätige Empörung der Männer, die korrupte Haltung der Polizei, die verlogene Argumentation der Kirche – frau könnte nur heulen. Das Drehbuch beruhe auf Tatsachen, sagt die Regisseurin. Und wir wissen, das könnte sich nicht nur in Mazedonien auf dem Land abspielen. Hoffnung macht allein die Reporterin des lokalen TV’s, die abbilden will, was da wirklich läuft. Und die Protagonistin, die zu Momenten grosser Kraft und Eigenständigkeit aufläuft. Der erste mazedonische Film an einer Berlinale. Unbedingt anschauen, wenn er in die Kinos kommt! Eine Wucht ist auch SYSTEMSPRENGER, das deutsche Drama über das 9-jährige Mädchen Benni, das mit seinen unberechenbaren Gewaltausbrüchen alle Grenzen und Möglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe sprengt. Die Bemühungen um das Mädchen, der professionelle und auch liebevolle Einsatz der Fachpersonen – und das sind nicht wenige – werden sehr differenziert gezeigt. Aber eben auch die Überforderung des ganzen fürsorgerischen Systems angesichts der unkontrollierten Energie des Mädchens und der Hilflosigkeit der total überforderten Mutter. Dabei haben wir gelernt, dass «Systemsprenger» in Deutschland der gebräuchliche Fachbegriff für eben solche Fälle ist, nüchtern und zutreffend.

ÖNDÖG ist ein mongolischer Film, der vor allem von der unglaublichen Weite der Landschaft lebt, bevölkert von immer weniger Nomaden mit ihren Herden und Jurten. Im Film ist es eine alleinlebende Hirtin, die einem jungen Polizisten beistehen muss und ihm dabei einiges beibringt. Eine schräge Geschichte, wunderbar bebildert, aus einer verschwindenden Lebenswelt. Der Franzose François Ozon war mit seinem neuen Film GRACE A DIEU präsent. Es ist der Fall des Lyoner Paters Preynat, der 2016 wegen sexueller Übergriffe auf über 70 Kinder und Jugendliche vor Gericht stand. Die Geschichte ist subtil aus der Sicht einiger männlicher, längst erwachsenen Opfer erzählt. Die Scheinheiligkeit und Verlogenheit der katholischen «Würdenträger» ist – im Film wie in der Realität – fast nicht mehr zu ertragen. DER BODEN UNTER DEN FÜSSEN, von der österreichische Regisseurin Marie Kreutzer, zeigt das irrwitzig gestresste Leben der erfolgreichen Unternehmensberaterin Lola. Die Atemlosigkeit zwischen Business-Jetsetterin, der Liebesbeziehung mit der Chefin und der psychisch schwerkranken Schwester sind sogar für die Zuschauerin stressig. Aber es ist durchaus glaubwürdig und hervorragend gespielt. Der Satz der uns am meisten eingefahren ist: Burnout ist wie Lepra. Etwas gar brav schien uns die Verfilmung von Per Pettersons Erfolgsroman PFERDE STEHLEN. Schön, ruhig, nahe am Buch – aber dieses war eindeutig fesselnder als der Film. Der Eröffnungsfilm THE KINDNESS OF STRANGERS ist ein zwar trauriger, aber liebevoller, etwas süsslicher Streifen über die Flucht einer Mutter mit ihren beiden Kindern vor dem gewalttätigen Vater nach New York. Ok, darf ja auch mal sein 😉. Unser letzter Film war dann eine Liga für sich: THE OPERATIVE (Die Agentin), in dem das Anheuern und das Aufbauen einer Agentin durch den israelischen Geheimdienst Mossad intensiv und sehr nahe an der Hauptperson aufgezeigt wird. Sowohl politisch wie von der Person her ein sehr beeindruckendes Lehrstück. Diane Kruger spielt hervorragend. Alle bisherigen Agentenfilme erscheinen daneben eher etwas dumpf und doof. Im Format «Berlinale Special» wurde die 3-stündigen Docufiction BRECHT gezeigt. Schreiben, Theaterarbeit, politischer Kampf und die zahlreichen Lieben des Meisters sind ausgiebig zu sehen. Spannend sind die Interviews mit noch lebenden Mitarbeitenden und seiner ersten Geliebten. Das seriöse Portrait macht einem den grossen Brecht aber nicht sympathisch, in seiner ganzen Zerrissenheit scheint er doch arg von sich eingenommen zu sein. So viel also zu unserer Berliner Filmauswahl. Grad haben wir gelesen, dass der Film, den wir nicht sehen wollten (obwohl wir Tickets gehabt hätten) schon in 10 Tagen anläuft in der Schweiz: DER GOLDENE HANDSCHUH. Tönt nur grässlich, die Geschichte des sozialen Dropouts Honka, der in den 1970er Jahren in Hamburg als Serienmörder Prostituierte umbrachte. Was wollte der geschätzte Fatih Akin damit sagen, aufzeigen? Die Kritiken waren sehr zwiespältig.



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