Natascha Wodin hat ihre in den kriegerischen Wirren des 20. Jahrhunderts durch Deportation, Flucht und Ermordung verlorene ukrainische Familie gesucht und – zu ihrem grossen Staunen – viele Verwandte gefunden, respektive deren Spuren. Suchmaschinen und engagierte Menschen machten es möglich, die unglaublichen Lebenswege von Grosseltern, Onkeln, Tanten, Cousinen zu rekonstruieren, teilweise Jahrzehnte nach deren Tod. Vor allem aber ging es um ihre Mutter. Von ihr wusste die Autorin fast nichts. Sie war erst 10jährig, als sich diese, am Ende ihrer Kräfte, mit 37 Jahren das Leben nahm. Der erste Teil des Buches erläutert die abenteuerliche Suche nach Familienangehörigen, die erst durch das Internet möglich war. Zu den immer wieder grausamen, brutalen und nur selten tröstlichen Fakten, auf die sie bei der Suche stösst, macht sie sich ihre Vorstellungen und Fantasien, was das wohl geheissen haben mag für die Betroffenen, damals, in den Jahren des Weltkriegs und des Stalinismus. Immer ist klar, was Fakt ist und was ihre Reflektionen und Vermutungen. Die Fakten sind grauenerregend: Offenbar wurden hunderttausende Slawen, Russen, Ukrainer vom Hitlerregime als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen die Fabriken am Laufen hielten, während die Deutschen an der Front waren. Unmenschlich im wahrsten Sinn, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter waren nur wenig besser als in den Konzentrationslagern, aus dem einfachen Grund, weil man sie als Arbeitskräfte am Leben erhalten musste. Trotzdem starben Tausende an Erschöpfung, Unterernährung, Krankheit. Natascha Wodin hält denn auch sachlich fest, dass diese ungeheure Zahl von Kriegsopfern in der Geschichtsschreibung bis heute kaum vorkommt und keines dieser Arbeitslager zu einer Gedenkstätte wurde. Im letzten Teil des Buches erzählt die Autorin ihre Kindheit, die sie mit ihren Eltern, die nach dem Krieg von Zwangsarbeitern zu «heimatlosen Ausländern» wurden, in der Nähe von Nürnberg verbrachte. Unter ärmsten Bedingungen, am Rande der Gesellschaft und noch immer isoliert und verachtet, wuchs sie in einer für diese staatenlosen Menschen erbauten Siedlung auf. Man kann das Buch nicht einfach so zur Seite legen, es holt einen immer wieder ein…
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