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Worte stärker als Bilder

Margrit Schaller

DIE VERLORENE – Friedas Fall, von Michèle Minelli Ich kannte das 2015 erschienene Buch «Die Verlorene» nicht, sondern bin erst jetzt darauf gestossen, weil es Grundlage für den Film «Friedas Fall» ist. Michèle Minelli hat auch das Drehbuch verfasst. Es sind sehr verschiedene Welten, das Buch und der Film. Vor allem zeichnet der Film nur einen kurzen Ausschnitt aus Friedas Leben nach, nämlich die Monate zwischen der Tötung ihres Kindes und der Urteilsverkündigung. Im Buch ist ihr ganzes – gut dokumentiertes Leben - nachgezeichnet. Von ihrer offenbar unbeschwerten Kindheit in Bischofszell bis zu ihrem Tod 1942 in der Irrenanstalt Münsterlingen. Weil Frieda Keller von ihrem Verteidiger Janggen dazu aufgefordert wurde, hat sie im Gefängnis ihren Lebenslauf verfasst und anhand dessen hat Michèle Minelli die Kindheit und Jugend der Frieda beschrieben. Und den Absturz in Scham und Verzweiflung. Das Ausmass der sozialen Ächtung, das einer «ledigen Mutter» Anfang des letzten Jahrhunderts entgegenschlug, ist schwer fassbar. Gegen verheiratete Männer konnte keine Vaterschaftsklage erhoben werden, «zum Schutz seiner Familie». Und wegen Vergewaltigung sowieso nicht – die junge Frau war offenbar zu wenig standhaft den Avancen gegenüber… Nach der Begnadigung und dem Urteil zu lebenslänglicher Einzelhaft ist Frieda Kellers Lebens- und Leidensgeschichte dokumentiert durch Gefängnisprotokolle, Arztberichte, Diagnosen, psychiatrische Beurteilungen. Die Autorin hat dieses Material mit wunderbar stimmiger Sprache und Bildern verbunden und zum Leben erweckt. Die 15-jährige Einzelhaft mit Rede- und Kontaktverbot ist Folter, das Abhandenkommen des Menschseins ist in dichtester Nachvollziehbarkeit beschrieben. Der Roman ist eine Geschichtslektion zur Rechtlosigkeit der Frauen, wie ich sie noch nie gelesen habe.  


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