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100 Jahre Frauenleben

UNTER OFFENEM HIMMEL von Katharina Geiser

Es fiel mir nicht ganz leicht, mich in dieses Buch einzulesen – aber je weiter ich kam, umso intensiver war der Sog. Katharina Geiser erzählt eine Frauenlinie über fünf Generationen - von Elise, geboren in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Emmental bis zu Klara, die 100 Jahre später in Basel lebt. Die erste und die letzte dieser Ahninnenreihe sind die Hauptfiguren im Roman. Die Frauen dazwischen lernen wir eher am Rande kennen, aber doch so, dass sich eine spannende und vielschichtige Generationenfolge auffächert. Die Kapitel wechseln zwischen Elise und Klara und nicht nur in den Frauenfiguren, auch in der Erzählweise und der Sprache sind die 100 Jahre spürbar.

Elise, älteste Tochter eine mausarmen, kinderreichen Familie (die Mutter stirbt als sie 10-jährig ist), übernimmt früh viel Verantwortung. Und lässt sich als 17-Jährige ein mit einem fremden «Doktor», der Fische erforscht, sie schwängert und dann nach Amerika verreist. Die junge Mutter mit dem unehelichen Anni wählt, um Geld zu verdienen, den Weg, den einem Mädchen wie ihr neben Dienstmagd und Fabrikarbeiterin bleibt: sie wird Prostituierte in Zürich. Dort wird sie bald von einem Freier umworben, einem einfachen Arbeiter, und zieht mit ihm zusammen ins Berner Mattequartier. Sehr spannend, lebendig und anschaulich, wie das Leben des städtischen Proletariats geschildert wird! Beni arbeitete als Taglöhner und Bauarbeiter, sie als Wäscherin im Hotel Bellevue, arm bleiben sie trotzdem. Sie holen Anni zu sich, zwei Mädchen werden geboren, beide sterben früh. Anni, so erfahren wir später, wurde Coiffeuse für noble Frauen und eine eher unzuverlässige Mutter von Trudchen, die Hebamme wurde und die Grossmutter von Klara ist. Auch diese eine eigenwillige Frau die früh weiss, dass sie sich nicht binden, nie heiraten will, wohl aber Liebschaften hat.

Der besondere Reiz dieses Romans ist nicht nur die Anlage als Familiensage entlang der Frauenlinie, sondern auch die Reise durch die gesellschaftlichen Veränderungen und die geschichtlichen Ereignisse der 100 Jahre. Überschwemmung im Mattequartier, Arbeiteraufstand in Bern, die grauenvolle Influenzapandemie Ende der 1880er Jahre. Dazu gibt es einen Abschnitt, der einen fast unglaublich aktuellen Bezug zur Corona-Krise herstellt.

In Klaras Leben wiederum wird die Chemiekatastrophe von Schweizerhalle von Nahem erzählt – sie malt nachts Protestgraffitis an Basler Hauswände. Also politische Statements, im Unterschied zu Harald Nägeli, der in Zürich sprayt, wie sie moniert.

Es gäbe noch Vieles zu erzählen zu diesem Buch – aber selber lesen ist angesagt. Und hören: 52 beste Bücher auf SRF Kultur und Lesetipp des Literaturhauses Zürich.



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