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Abgründe der Schweizer Sozialgeschichte

  • Margrit Schaller
  • vor 14 Minuten
  • 2 Min. Lesezeit

SCHATTENKIND, ZIGEUNER, NZZ zum Thema «administrative Versorgung»«Bis 1981 waren in der Schweiz über hunderttausend Kinder und Erwachsene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen betroffen. Die Massnahmen richteten sich gegen Personen, die aus ärmeren Verhältnissen stammten oder deren Lebenswandel nicht der damals akzeptierten gesellschaftlichen Norm entsprach. Dazu gehörten auch Menschen mit fahrender Lebensweise, etwa Jenische und Sinti.»  Am 19. Februar 2025 hat der Bundesrat anerkannt, dass «die im Rahmen des ‹Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse› erfolgte Verfolgung der Jenischen und Sinti nach Massgabe des heutigen Völkerrechts als ‹Verbrechen gegen die Menschlichkeit› zu bezeichnen ist. Für das begangene Unrecht bekräftigt der Bundesrat gegenüber den Betroffenen die 2013 ausgesprochene Entschuldigung. Das EDI wird mit ihnen klären, inwiefern über die bereits ergriffenen Massnahmen hinaus noch Bedarf zur Aufarbeitung der Vergangenheit besteht.» Das sind zwei Zitate aus dem offiziellen Berner Communiqué. Dass noch dringend weiterer Bedarf besteht, erläutert ein Artikel in der NZZ am Sonntag vom 13.4.2025. Darin wird erläutert, wie schwierig sich die Suche nach den Akten über die eigene Kindheit und Jugend und die erlebten Zwangsmassnahmen noch heute für Betroffene sein kann. Und dass nicht alle beteiligten Institutionen wirklich kooperativ sind, sondern zögerlich in der Herausgabe von Akten oder solche sogar vernichtet haben, als das bereits offiziell verboten war. Der NZZ-Artikel ist sehr beeindruckend.

Literarisch habe ich zwei Entdeckungen gemacht, die eigentlich nicht neu, aber an mir vorbeigegangen sind (was mich beschämt), und die mich seit Wochen umtreiben. In SCHATTENKIND erzählt der inzwischen sehr erfolgreiche Krimi-Autor Philipp Gurt seine Biografie bis 16jährig. Er ist 1968 als siebtes von acht Kindern in eine arme Bündner Familie («jenischer Abstammung») geboren worden. Nachdem die Mutter die Familie mit einem anderen Mann verliess und der Vater trank, wurden alle acht Kinder fremdplatziert, alle in verschiedenen Heimen oder Familien. Sie sahen sich teilweise viele Jahre nicht mehr. Philipp Gurt hat seine Kindheit im Alter von 48 Jahren, als er sich dazu befähigt fühlte, recherchiert und seine Erinnerungen in einer intensiven Innenschau geschrieben. So wird zum Beispiel seine Schilderung des sexuellen Missbrauchs als Sechsjähriger, durch eine Erzieherin, die er sehr gerne hatte, für mich unvergesslich sein. Der Alltag in grossen Institutionen wie z.B. dem «Albisbrunn» im Kt. Zürich war noch bis in die 80er Jahre geprägt von Gewalt, Übergriffen, Rechtlosigkeit der Eingewiesenen.

2021 erschien Isabella Husers Roman ZIGEUNER. Auch sie hat recherchiert über ihre Vorfahren und ihre jenische Familie väterlicherseits. Ihr Vater war Berufsmusiker, die italienische Mutter Lehrerin. Ihre Grosseltern hatten die Kinder, ihren Vater und seine Geschwister, vor den Übergriffen der Aktion «Kinder der Landstrasse» jahrelang versteckt. Geredet wurde in der Familie nicht wirklich darüber, Isabella Huser hat in den Archiven Funde gemacht, die sie zutiefst verstört haben. Das Buch ist kunstvoll geschrieben, neben den belegten Tatsachen erzählt sie beeindruckende Familiengeschichten, beginnend Anfang des 19. Jahrhunderts.



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