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Berlinale 2020 – die 70ste!

Margrit Schaller

Der Potsdamerplatz eine grosse Baustelle, so dass wir nie im Berlinale Palast und auch nicht auf dem roten Teppich waren – aber Filme haben wir viele gesehen. Fast alle, die «unser» Carlo Chatrian in seinem ersten Berliner Jahr in den Wettbewerb holte. Grad vornweg: Die Jury hat es gut gemacht, wir hätten den Goldenen Bären auch THERE IS NO EVIL aus dem Iran verliehen. Vier sorgfältige, beeindruckende und eher leise Kurzfilme über die Todesstrafe, die im Iran mehr als 200 mal jährlich noch immer durch Erhängen vollzogen wird. Regisseur Rasoulof hat Kurzfilme (viermal 30 Min) gemacht, weil solche von der Zensur weniger beachtet werden. Er selber darf das Land nicht mehr verlassen, den Preis hat seine Tochter, die auch mitspielt, für ihn entgegengenommen. THE WOMAN WHO RAN, der Gewinner des silbernen Bären für die beste Regie, könnte gegensätzlicher nicht sein: Eine Frau besucht nacheinander drei Freundinnen, die sie schon länger nicht mehr gesehen hat, sie sitzen an einem Tisch und plaudern. Ein leichter aber nicht seichter Konversationsfilm aus Südkorea. Ich weiss nicht, ob es diesen Begriff gibt, aber es wird nur geredet, leichthin, über Alltägliches, Vergangenes, allenfalls Mögliches. Wer wann rennt bleibt das Geheimnis des Regisseurs… Der Preis für das beste Drehbuch ging an die jungen italienischen Brüder D’Innocenzo (Zwillinge, sie traten immer Hand in Hand auf, rührend) für den Wurf FAVOLACCE. Portraits einiger Mittelstandsfamilien in der Agglo von Rom. Die Tränen bleiben einem im Hals stecken ob der emotionalen Indifferenz der Eltern ihren Kindern gegenüber, wenn gleich sich so vieles um diese zu drehen scheint. Grässlich die Väter in ihrer Sexbesessenheit, die Mütter die alles abnicken – die Kinder die dabei im Vakuum verlorengehen. Ganz unreisserisch ist diese Gesellschaftsstudie, aber auch darum sehr überzeugend und wahrhaft todtraurig.

Aus den USA kommt NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS, die Geschichte der 17-jährigen Autumn, die ungewollt schwanger ist und vom ländlichen Pennsylvania nach Manhattan reisen muss, um legal abtreiben zu können. Seriös und etwas brav gemacht, ganz nah an der Protagonistin, ohne dass man viel über sie erfährt. Erstaunlich das offenbar gut eingerichtete Netz für minderjährige Schwangere – mindestens in NYC. Der Film bekam den grossen Preis der Jury – vielleicht auch, weil er von der verdienten Regisseurin Eliza Hittmann inszeniert wurde und ein so klares Frauenthema zeigt. Und selten so oft geschmunzelt wie in EFFACER L’HISTORIQUE (was soviel heisst wie «Verlauf löschen») aus Frankreich. Drei Menschen in eher prekären Lebenssituationen, die alle in digitalen Verstrickungen stecken – unweigerlich kommt einem dies oder das bekannt vor von eigenem Erleben. Mit wieviel Zuversicht und Power sie sich immer wieder aufrappeln und versuchen ihr analoges Leben in den Griff zu bekommen wird sehr erfrischend und eben auch witzig dargestellt – ein Aufsteller!

Und ja, unser grosser Favorit: BERLIN ALEXANDERPLATZ – drei Stunden grandiose Filmkunst. Ganz nah am Roman von Alfred Döblin (1929 geschrieben) aber in der Realität des heutigen Berlins angesiedelt. Wunderbar und fast nicht zu fassen, wie es Regisseur Burhan Qurbani gelungen ist, die Figuren im Döblinschen Geist atmen und sie in der Drogen- und Unterwelt der heutigen Grossstadt leben zu lassen – und alles stimmt. Die grossen Fragen nach Moral und gutem oder schlechtem Handeln stellen sich nach wie vor. Franz Biberkopf, der aus dem Gefängnis entlassen wird, ist jetzt Francis aus Guinea Bissau, der halb tot an die europäische Küste gespült wird und in Deutschland versucht, ein guter Mensch zu sein. Was nicht gelingt. Er wird Drogendealer, verliert seine grosse Liebe Mieze (wunderbar gespielt von Jella Haase) und seine Freiheit. Grossartig!

Und schliesslich noch eine aufsehenerregende Schweizer Produktion, SAUDI RUNAWAY. Eine junge saudiarabische Frau entschliesst sich, aus dem patriarchalen Unterdrückungs-System ihrer Heimat zu fliehen. Sie filmt ihre Vorbereitungen heimlich mit dem Handy und spricht über ihr Leben, ihre bevorstehende Hochzeit, ihre Eltern und warum sie nicht bereit ist, ein Leben wie ihre Mutter zu führen. Obwohl man davon ausgehen kann, dass die Flucht glückt, leidet man während des Films, denn die Vorstellung, was geschehen würde, wenn ihr Plan auffliegt, ist grauenhaft. Weil die Hochzeitsreise nach Abu Dhabi führt ist es der jungen Frau möglich, allein ein Flugzeug zu nehmen, das sie nach Europa bringt.

Das ein unsystematische Auswahl – aber alle diese Filme sind sehenswert, wenn sie dann in den CH-Kinos ankommen!





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