Choreografie des Möglichen
- Elena Wilhelm
- 4. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
Wider Than the Sky von Valerio Jalongo

«Wider Than the Sky» ist ein Schweizerisch-italienischer Dokumentarfilm von Valerio Jalongo. Er begleitet führende Künstler:innen, Tänzer:innen und Wissenschaftler:innen, die an den Rändern des Möglichen mit und an Künstlicher Intelligenz arbeiten – zwischen Labor, Bühne und Atelier. Der Film stellt die Frage, ob sich eine kollektive Nutzung von KI denken lässt, die unsere Zukunft menschenfreundlich formt.
Wider than the Sky evoziert die Frage nach Bewusstsein und Imagination und holt sie in die konkrete Gegenwart von Black-Box-Konzernen, generativer KI in der Kunst, rennenden Drohnen und menschenähnlichen Robotern, die in Interviews Gefühle beanspruchen. Der Film montiert diese Sphären nicht als Gegensätze, sondern als Spannungsraum. Wir sehen Maschinen, die uns spiegeln und Menschen, die Maschinen choreografieren. Und manchmal ist unklar, wer hier wessen Takt vorgibt.
Wir sassen im Kino zwischen Staunen, Faszination und Unbehagen. Staunen, weil die Bilder eine Welt entwerfen, in der die Grenzen zwischen Denkakt und Rechenkraft fliessend werden. Faszination, weil Künstler:innen sichtbar riskieren, ihre eigene Handschrift durch Kollaboration mit Algorithmen zu dehnen. Oder zu löschen? Unbehagen, weil KI als neue unberechenbare Macht erscheint. Jalongos Zugriff ist antidogmatisch: keine Heilsversprechen, keine Kulturpessimismen, sondern ein schweifender Blick, der Widersprüche stehen lassen kann.
Besonders stark ist der Film, insofern er Tanz als Erkenntnismodus versteht. Tanz (gezeigt wird wird eine Choreographie von Sasha Waltz) ist keine Illustration von Technik, sondern eine verkörperte Theorie: Timing, Gewicht, Druck, Widerstand werden zu Fragen an die Maschine. Kann ein Modell vorwegnehmen, mimetisch mitgehen, ein Gewicht teilen? Und was heisst das, wenn wir über Kooperation zwischen Menschen und KI sprechen? Tanz wird zur Ethikprobe: Nur wenn die Maschine mit uns atmen lernt kann aus Assistenz Zusammenarbeit werden.
Eine leitende Einsicht, die der Film immer wieder verdichtet, lautet: Ohne Mensch keine KI. Nicht nur, weil unsere Daten, Bilder, Bewegungen und Stimmen das Rohmaterial sind, sondern weil Bedeutung erst in menschlichen Praktiken entsteht. Die Trainingssets sind Archive unserer Kultur. Die Modelle sind Statistiken unserer Gesten. Wenn ein Algorithmus eine Choreografie lernt, dann zitiert er unser Repertoire und setzt es neu zusammen. Darin liegt die produktive Provokation des Films: Er zwingt uns, die Verantwortung für das, was KI kann (und nicht kann), nicht an die Maschine abzugeben.
Die vielleicht kühnste Frage im Film – und in unseren Gesprächen danach – lautet: Kann KI je Körperlichkeit empfinden? Empfinden ist nicht bloss Sensorik, sondern Verortung in einem lebendigen, verletzlichen, sozialen Körper. Maschinen können messen, simulieren, synchronisieren. Sie können sogar im Tanz plausible Mikrobewegungen erzeugen. Aber Verletzbarkeit, Latenz, Schwindel, Schwerpunktwechsel – die Subjektformen des Leibes – sind nicht einfach Code. Gerade deshalb wirkt der Tanz im Film so klärend: Er zeigt, dass Bedeutsamkeit nicht ohne Reibung entsteht. Ob zukünftige Robotik diese Reibung einmal in etwas übersetzt, das wir Empfinden nennen würden, bleibt offen – und genau darin liegt die intellektuelle Spannung des Werks.
Formal überzeugt Wider Than the Sky durch eine ruhige, essayistische Montage, in der Gespräch, Versuchsanordnung und Bühnenproben ineinander greifen. Die Kamera (Ian Oggenfuss) findet Bilder, die die technische Kühle der Labors mit der Körperwärme der Probenräume kontrastieren, während die Musik (Kety Fusco) den emotionalen Ton hält. Diese ästhetische Entdramatisierung erlaubt es, das Fremde an KI auszuhalten und das Eigene neu zu sehen.
Am Ende bleibt für uns ein doppelter Imperativ: Kuratiert eure Daten, pflegt eure Praxis. KI ist keine transzendente Macht, sondern ein Kulturprodukt. Ihre Qualität wird an unseren Gesten, Archiven und Institutionen gemessen. Wenn der Film etwas lehrt, dann dies: Unsere Körper – tanzend, tastend, tastatur-klappernd – sind die wahren Rechenzentren der Zukunft.



