«Blauwal der Erinnerung» von Tanja Maljartschuk Das Buch lag schon auf meiner Bücherbeige als am 2. Juli im Tages-Anzeiger das grosse Interview mit der ukrainischen Autorin zu lesen war. Was für eine engagierte, kluge, auch radikale Frau! «Seit vier Monaten lebe ich im Ausnahmezustand», sagt sie, und erklärt, wie sie versucht, mit der aktuellen Situation umzugehen. Dann machte ich mich hinter das Lesen des Romans – und das ist eine Herausforderung, finde ich. Man wird hineingeworfen in die unglaublich bewegte Geschichte der Ukraine in den letzten 120 Jahren. Dies anhand der Biographie des Geschichtsphilosophen und Politikers Wjatscheslaw Lypynskj (1882 – 1931). Dieser machte den Kampf für eine eigenständige, unabhängige Ukraine zu seinem Lebensinhalt. Sohn einer polnischen Adelsfamilie, geboren im heutigen Lwiw/Lemberg gehörte er zu den Vorkämpfern für die Existenzberechtigung und die Anerkennung von Staat und Sprache – Ukrainisch galt als «Bauern-Dialekt», und wurde von den gebildeten Schichten verachtet. Dieser Mann ist aber auch krank, ja hypochondrisch, verbringt immer wieder lange Zeit in Sanatorien in der polnischen Tatra um seine Tuberkulose zu kurieren. Denn: «Davos, den besten Lungenkurort Europas, konnten sich nur die wirklich Reichen leisten.» Es gibt eine zweite Hauptperson, eine zeitgenössische Frau, die in ich-Form erzählt. Sie ist von Lypynskj fasziniert und interessiert sich sehr für sein Leben und Wirken. Was sie mit ihm verbindet ist nicht so klar, ausser dass sie genau hundert Jahre nach ihm geboren wurde, auch von Krankheit und Panikattacken geplagt ist und, was nur ganz am Rande erzählt wird, drei Ehen durchleidet. Mich hat der Roman total in Bann gezogen. Auf dem Cover steht, Tanja Maljartschuk schreibe «bildmächtig», genau so habe ich es empfunden. 2018 hat sie den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen.
