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Michael Ondaatje führt uns auf mysteriösen Wegen durch «Kriegslicht»

Aktualisiert: 9. Jan. 2019

Soeben habe ich «Kriegslicht» zu Ende gelesen – war abwechselnd fasziniert und gelangweilt und fühlte mich manchmal überfordert – da wird es glücklicherweise im Literaturclub SRF besprochen. Es tut gut zu hören, dass auch die Profis geteilter Meinung sind, die Leerstellen monieren, das Erzählen im Dämmerlicht loben. Die Grundgeschichte ist ja ein menschliches Drama, allerdings gar nicht dramatisch erzählt: Die Eltern der Kinder Nathaniel, 14-jährig und Rachel, 16, verkünden einfach, dass sie verreisen, sicher für ein Jahr «also nicht für allzu lange Zeit.» Und die beiden bleiben zurück in London unter der «Aufsicht» von zwei geheimnisvollen Männern. In der Wohnung gehen auch deren Kollegen und Freundinnen ein und aus, manche interessieren sich für die zwei jungen Menschen, andere gar nicht. Für die beiden bleibt das Treiben aller Beteiligten vage, sie suchen sich ihren Weg ins Erwachsenenleben zwischen ihnen, entfremden sich bald voneinander. Nathaniel, der Ich-Erzähler, freundet sich mit einem der Männer, dem «Boxer», an und belgleitet ihn nachts auf seinen Schmuggeltouren auf den Kanälen der Themse. Das sind Szenen von grosser Faszination, diese nächtlichen Bootsfahrten. Die Mutter taucht dann wieder auf, der Vater nie mehr – und wird auch nicht mehr erwähnt, so wie Rachel, die einfach aufhört zu existieren. Als Erwachsener arbeitet Nathaniel professionell das Leben seiner Mutter auf, bringt in den Archiven Helligkeit ins Kriegslicht, in dem seine Mutter beim Geheimdienst arbeitete und im Balkan und in Italien im Einsatz war. Warum sie Jahre nach dem Krieg dann umgebracht wird, verstehen wir nicht, so wenig wie Nathaniel. Das Buch ist distanziert geschrieben, Emotionen fehlen fast ganz, sowohl beim Erleben der jungen Menschen wie bei der Recherche des Erwachsenen. Warum es dennoch stellenweise einen sehr dichten Sog entwickelt kann ich nicht erklären – aber wir wissen ja seit «Der englische Patient», dass Ondaatje ein Genie ist.


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