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Wow – Olga Tokarczuk!

Soeben habe ich UNRAST zu Ende gelesen und dieses wow ist der komprimierte Ausdruck für meine Begeisterung, mein Staunen. Mein Staunen ob einer solchen, für mich neuen und überraschenden literarischen Form. Carolin Emcke, die anstelle der ursprünglich eingeladenen Olga Tukarczuk am 8. November dieses Jahres die Buch Basel eröffnete und eine schöne, differenzierte Rede zu UNRAST hielt, spricht von einem «filigranen, hybriden, verzweigten Essay-Roman». Das Buch besteht aus einigen Geschichten, zum Teil in Bruchstücken erzählt, dazwischen Essays, Reflexionen, Kurztexte zu verschiedensten Themen, sehr oft drehen sie sich ums Reisen, das Warten auf Flughäfen, Beobachtungen, flüchtige Begegnungen. Und die Faszination des Organ Präparierens taucht mehrfach auf. Historische und aktuelle Methoden der Konservierung von menschlichen Organen, von ganzen Organismen.

Dass die Geschichten nicht durchgehend erzählt werden, kann einem etwas nervös machen. Da ist Kunicke, der mit Frau und Kind auf einer kroatischen Insel Ferien verbringt und die beiden verschwinden spurlos. Lassen sich auch mit einem Grossaufgebot von Polizei nicht finden - so ist es. Erst 300 Seiten später lesen wir, dass die Familie wieder zusammen ist, in einem desolaten Zustand. Nichts wird aufgelöst, nichts erklärt sich, die Nervosität bleibt, irgendwie. Und da gibt es die in erlesen-höflichem Deutsch geschriebenen Briefe an Franz I., Kaiser von Österreich, mit denen die Tochter eines ehemaligen schwarzen Dieners am Hof, jetzt verehelichte Josephine Soliman von Feuchtersleben, eindringlich um den ausgestopften und ausgestellten Leichnam ihres Vaters bittet, um ihn christlich begraben zu können. Meine liebste Geschichte ist die von Eryk, dem versoffenen Seemann mit der Affinität zu Literatur, der eines Tages als abgestiegener Fährmann das langweilige Hin und Her zwischen den Schären verlässt und aufs offene Meer zusteuert. Ich dachte, ob nicht «Rastlos» ein stimmigerer Titel gewesen wäre, aber Rastlosigkeit ist ja eher negativ konnotiert, was für das Buch nicht stimmen würde. Und der polnische Originaltitel «Bieguni» lässt sich nicht übersetzten, es ist der Name einer «im 18. Jahrhundert gegründeten russischen Sekte der <Läufer> (Beguny), die sich dem Staat und seinen Gesetzen verweigerten, indem sie um­herzogen, ewige Wanderer auf Erden. Dass Tokarczuk ihr Buch auf polnisch <Bieguni> betitelt hat, zeigt ihre Nähe zum Gedanken existentieller Pilgerschaft. Pilgerschaft ist positiv konnotiert, anders als die Unrast unserer veloziferischen Zeit», schreibt Ilma Rakusa in ihrer Besprechung des Werks.


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